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La Esperanza – Die Straße der Hoffnung

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La Esperanza – Die Straße der Hoffnung

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/Ausgabe 15

La Esperanza – Die Straße der Hoffnung

Laurent Dieste
/Lesezeit: 9 Minuten

Wenn man ein Vorhaben plant, das weit über die eigene Person hinaus Bedeutung hat, dann gibt es einem zusätzliche Motivation – auch wenn es mal schwierig wird. Doch die damit verbundenen Erwartungen können auch belastend sein. Genau das erlebte Laurent, als er den Weg nachging, den seine Familie in den 1920er-Jahren wählte, um der spanischen Diktatur zu entkommen. Zum hundertsten Jahrestag ihrer Reise und als Würdigung ihres Durchhaltevermögens machte sich Laurent auf den Weg, ihre ursprüngliche Route zu verfolgen. Er nannte das Projekt „La Esperanza“ („Die Hoffnung“ auf Spanisch) und absolvierte die Strecke von Ayerbe in Spanien nach Lourdes in Frankreich in vier Tagen. Glücklicherweise hat er die Geschichte schriftlich festgehalten und so bekommen wir alle einen einzigartigen Einblick in diese, seine ganz besondere Reise. Viel Vergnügen beim Lesen!

Catherine

Chefredakteurin Notes from Outside

Während meiner Kindheit hörte ich immer wieder die Geschichte meiner Vorfahren, die aus Spanien flohen, um woanders ein besseres Leben zu finden. Doch erst nach dem Tod meiner Großeltern wurde mir klar, dass ich dabei nie so wirklich aufmerksam zugehört hatte. Also nahm ich mir vor, eines Tages selbst ihren Weg – von Ayerbe in Spanien – dem Ort ihrer Kindheit – nach Lourdes in Frankreich – ihrem späteren Wohnort – zurückzulegen.

Nach langem Vor-mich-Hinschieben war das Jahr 2023, also ein volles Jahrhundert nach ihrer Flucht, für mich dann endlich Motivation genug, diese Reise anzutreten. Weil mich die Symbolkraft der Orte faszinierte, plante ich meine Etappen entlang der wichtigsten Stationen ihrer Reise – und meines Herzens. Es war ohnehin ein sehr persönliches Projekt, und da ich gerade ein wenig Zeit für mich allein gut gebrauchen konnte, entschied ich mich, komplett auf eigene Faust loszuziehen.

Mehrtageslauf oder Speed-Wandertour? Noch am Tag vor der Abreise und nach Monaten der Planung war ich mir immer noch unsicher, wie ich das Projekt nennen sollte und worauf ich mich dabei eigentlich einließ.

Die Bedenken meiner Eltern verstärkten all diese Unsicherheiten eher noch, aber meine Partnerin Laura, meist schlauer als ich, erinnerte mich daran, dass wohl niemand mehr über diese Reise nachgedacht hatte, als ich. Abenteuer beginnen immer mit einer „Angstphase“ – alles Neue wirkt zunächst erstmal erschreckend unplanbar, nur um sich nach und nach dann doch als beherrschbar herauszustellen. Außerdem konnte ich nicht erwarten, dass andere die Gefahren genauso einschätzen konnten wie ich. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich entschließt, es einfach zu machen – unabhängig von Plänen und den Bedenken anderer.

Bereits der Start in Ayerbe war emotional. Ein Ort, der die Zeit scheinbar verschlafen hat: Der Fußballplatz, der Bahnhof mit seinen von Bürgerkriegs-Spuren überzogenen Mauern und natürlich die Bäckerei Cesar Ascaso, Lieferant der lokalen Berühmtheit Pan de Anís – sie alle standen als nostalgische Erinnerungen an meine früheren Besuche da.

Es war August – aber zu meiner Überraschung war die Luft morgens immer noch recht kühl. Eiskalt fast. Ich wärmte mich also am Gedanken, bald durch all die vertrauten Orte zu laufen.

Die Mallos de Riglos, in denen ich schon mehrmals mit meiner Familie gewandert bin, versprühen immer noch diesen Hauch von Magie. Diese zeitlosen roten Canyons und die kreisenden Geier versetzen dich direkt in den Südwesten der Vereinigten Staaten. Leider gleichen die verlassenen Landschaften auch den meisten Städten, die ich hier durchquere. Aragonien ist zwar unglaublich schön, aber oft auch wie ausgestorben. Glücklicherweise stieß ich dennoch auf einige Bäckereien, die sich um meine Ernährung kümmern konnten.

Das gemütliche Tempo in den anspruchsvollsten Passagen erlaubte es mir, andere Reisende etwas näher kennenzulernen und ein paar Lebensgeschichten auszutauschen.

In Santa Cruz de la Serós, meinem behaglichen Nest für die erste Nacht, bemerkte eine Frau vor einem Restaurant, dass ich humpelte und rief mir zu: „Komm her, Guapo (‚Hübscher‘), ich habe Eis für dich!“ Ursprünglich plante ich nur auf ein Bier zu bleiben, aber sie deckte sofort den Tisch, und so blieb mir keine andere Wahl, als für das Abendessen zu bleiben und mit ihr zu plaudern.

Ich weiß, dass meine Familie eine Weile in Jaca verbracht hat, wo sie einigen Cousinen bei ihrem Sandalen-Geschäft geholfen hat – bevor sie weiter nach Canfranc zogen, direkt an die Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Hier haben sie richtig angepackt und beim Bau des Eisenbahntunnels mitgeholfen.

Jaca war mein nächstes Ziel. Ich wollte dort am Friedhof – immer ein verlässlicher Ort für einen Trinkwasserhahn – Halt machen, um meine Flaschen aufzufüllen und um zu schauen, was sich sonst noch so entdecken ließ. Beim Überprüfen einiger Grabsteine stieß ich auf etwa ein gutes Dutzend, die meinen Familiennamen trugen. Ich hatte zwar keine Ahnung, wer diese Menschen waren, aber wir teilten alle den gleichen, ungewöhnlichen Namen – und das vermittelte mir ein tiefes Gefühl der Verbundenheit. Als ob die Echos der Vergangenheit zu mir durchdringen würden. Kannten diese Menschen vielleicht meine Urgroßeltern? Die fast greifbare Präsenz familiärer Verbindungen und die verschwommenen Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart ließen mich leicht verwirrt zurück.

Mit meiner frisch geweckten Neugier setzte ich meinen Weg nach Canfranc fort, erfreut darüber, mögliche Hinweise auf die Vergangenheit meiner Familie gefunden zu haben.

Nach 50 Jahren des Verfalls erstrahlt der alte Bahnhof in Canfranc jetzt in ganz neuem Glanz, als schickes Hotel mit einem trendigen Publikum. Ich beschloss, mich dort mit einer Übernachtung zu verwöhnen, in der Hoffnung, dass kalte Bäder meinen mittlerweile schmerzenden Knien Erleichterung verschaffen würden. Als ich dann in meinen verschwitzten Laufklamotten, ohne jegliches Gepäck, dort auftauchte, fühlte ich mich ein wenig wie ein Außenseiter. Als der Hotelpage dann noch vorschlug, meinen Trinkrucksack aufs Hotelzimmer zu bringen, lehnte ich höflich ab – und wir beide mussten über die skurrile Situation lachen.

Vor dem Einchecken hielt ich noch kurz an, um ein Selfie vor dem alten Bahntunnel zu machen. Dem Tunnel, bei dessen Bau meine Familie geholfen hat.

Pedro, ein alter Laufbuddy von mir, der jetzt hier in der Gegend als Arzt und Bergretter arbeitet, bot an, mich am dritten Tag für ein paar Stunden zu begleiten. Ein Arzt, wirklich? Zu schön, um wahr zu sein. Er warf sofort einen Blick auf mein Knie und beruhigte mich: Eine klassische Sehnenentzündung, aber nichts, was mich daran hindern würde, den Rest der Reise zu absolvieren. Scheinbar ist das Leben in den Niederlanden und das Laufen auf Stadionrunden keine wirklich gute Vorbereitung auf diese spanische Achterbahn der Höhenunterschiede.

Mit dem wiedergewonnenen Vertrauen in mein Knie war es einfach herrlich, gemeinsam die Wanderwege zu genießen und mich mit einem Freund nach so vielen Jahren auszutauschen. Wir machten Pause für einen kleinen Snack und bewunderten das atemberaubende Schauspiel des Sonnenaufgangs am Monte Perdido. Oder sollte ich besser sagen Mont Perdu, denn, oh là là, wir befanden uns ja nun in Frankreich.

Pedro was working later that day, so he had to turn around. We exchanged a hug, swore not to let another decade pass by before our paths cross again, and parted ways.

Pedro musste an diesem Tag noch arbeiten, also kehrte er um. Wir umarmten uns, schworen uns, dass nicht noch ein Jahrzehnt vergehen wird, bevor sich unsere Wege wieder kreuzen, und liefen in getrennte Richtungen weiter.

Mit größtem Knie-Vertrauen stürmte ich ins Tal hinab, bis zu einem plätschernden Fluss. Dort machte ich Halt, um mein selbstgemachtes Tortilla-de-Patatas-Sandwich zu verschlingen, bevor es erneut bergauf ging – auf dem längsten und steilsten Anstieg meines gesamten Abenteuers.

An diesem Punkt nahm die Geschichte eine unerwartete Wendung. Die Schilder Richtung Gourette, meinem Ziel für die Nacht, zeigten plötzlich „noch 6 Stunden“ an, was mir etwas übertrieben erschien. Einige Leute aus der entgegengesetzten Richtung bestätigten allerdings die schlechte Nachricht. Sie hatten diesen Weg bereits früher am Tag zurückgelegt – ich hatte also noch einen weiten Weg vor mir.

Als ich mich dem Aufstieg näherte, zeigte sich mir die harte Wahrheit: überall loses Geröll. Es ging zwei Schritte vorwärts und einen Schritt zurück – sehr langsam, extrem erschöpfend. Ein weiteres Problem: Ich wurde durstig, mein Wasser war leer, und ich war weit entfernt vom nächsten öffentlichen Brunnen. Glücklicherweise gab es in der Nähe einen Fluss, und ich hatte extra für diese Notfälle einige Reinigungstabletten eingepackt. Nach 30 Minuten Erfrischungspause setzte ich meinen Weg fort.

Jeder Schritt fühlte sich an wie zehn, und es war jedes Mal wie ein Schlag in den Magen, wenn sich nach einer Kurve noch mehr Strecke enthüllte. Um es kurz zu machen: Obwohl ich dachte, es wäre eine Sache von weniger als einer Stunde, hat der Aufstieg insgesamt über drei Stunden gedauert.

Die Deadline für meinen Check-in in der Pension rückte gefährlich näher und machte mich nervös. Ich fühlte mich komplett ausgetrocknet und leicht fiebrig. Und natürlich gefiel mir das alles überhaupt nicht. Ich beeilte mich, aber die Angst, mir möglicherweise Knöchel oder Knie zu verdrehen, machte es mir schwer. Zum ersten Mal in meinem Leben heulte ich vor lauter Erschöpfung.

Auf wundersame Weise schaffte ich es doch rechtzeitig nach Gourette und in mein Gästehaus. Ich ging runter zum Dinner – und direkt darauf mit einem nicht besonders eleganten Abgang zurück nach oben, um das Abendessen wieder loszuwerden. Dieses Mal brauchte ich keine ärztliche Bestätigung: Ich hatte einen Hitzschlag.

Als ich ins Bett kroch, fühlte ich mich wie ein Kind, das etwas ausgeheckt hat, aber tief drinnen weiß, dass es nicht die cleverste Idee war. Ich gab mir selbst die Schuld, zu ehrgeizig gewesen zu sein. Es war alles zu lang, „zu viel Tag für einen Tag“, wie ich gerne sage.

Meine Textnachrichten an Laura, Pedro, einige andere Freunde und meine Familie wurden mit einer Flut von Unterstützung und vielen aufmunternden Worten beantwortet. Jede Menge Motivation, um durchzuhalten. Lourdes war auch nur noch einen Tag entfernt – von da an ging es fast nur noch bergab, und das dort geplante Familientreffen war wie ein Licht am Ende des Tunnels.

Ich beschloss, etwas später loszulaufen und den letzten Tag entspannter anzugehen. Der Aufstieg vom Vortag hat mich auch mental in Situationen gebracht, die ich nie wieder erleben möchte. Auf dem Weg rekapitulierte ich alles, was in den vorherigen drei Tagen passiert war. Jetzt, wo das Ziel langsam in Sicht lag, bedauerte ich, dass ich mir nicht mehr Zeit zum bewussten Erinnern und für die einzelnen Orte genommen hatte. Ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, die verbleibende Zeit der Reise zu genießen.

Noch ein allerletzter, aber absolut notwendiger Halt im Supermarkt für ein äußerst fragwürdiges Mittagessen – eine Tüte saurer Colafläschchen und eine richtige Cola – dann weiter.

Eigentlich konnte ich nicht mehr – aber langsam wurde Lourdes erkennbar und beflügelte mich. Wie versprochen, schickte ich meinem Onkel 30 Minuten vor meiner Ankunft eine Nachricht, weil er ein Foto machen wollte. Als ich in seine Straße einbog, stand er bereits auf der Türschwelle seines Hauses. Dort, wo meine Großeltern lebten. Dort, wo er vor 85 Jahren geboren wurde. Dort, wo er nie weggezogen ist. Wir beide fingen an zu weinen, aber es waren völlig andere Tränen als die am Tag zuvor.

Kurz danach bot er mir freundlich eine Dusche an. Nachdem ich vier Tage lang dasselbe Outfit getragen hatte, hatte ich mich an meinen Geruch gewöhnt, aber ich konnte mir ungefähr vorstellen, wie es für ihn gewesen sein muss.

Später trafen meine Cousins ein, und wir alle setzten uns in die Küche, um den Rest der Familie per Video-Call anzurufen – in dem Raum, der so viele Jahrzehnte Familiengeschichte erlebt hat.

Während ich in den Bergen unterwegs war, nutzte mein Onkel anscheinend die Zeit, um einige alte Fotoalben herauszugraben, Erinnerungen, die er gewöhnlich nie öffnete. „Unnötiger Schmerz“, so seine Worte.

Jetzt allerdings zeigte er uns unzählige Bilder – von meiner Großmutter, von meinem Großvater, von beiden zusammen – und erzählte: über sie, über ihn, über ihre gemeinsamen Erlebnisse. Meinen stillen, eigenwilligen Onkel dazu zu bringen, aus sich herauszugehen und all diese Geschichten mit uns zu teilen, war fast so eine große Leistung wie der Lauf selbst. Er erkundigte sich sogar nach einigen Abschnitten der Route, die er vor Jahrzehnten selbst durchwandert hatte. Auch wenn sein Gedächtnis mittlerweile manchmal etwas trüb sein mag, er erinnerte sich glasklar an sein eigenes Abenteuer – und dann murmelte er so etwas wie, dass meine Großeltern überaus stolz auf mich gewesen wären.

Ich bin nicht mit allen Entscheidungen entlang dieser Reise zufrieden, aber ich bin überglücklich, meinen Onkel dazu gebracht zu haben, seine Schatztruhe voller Familiengeschichten zu öffnen, die wahrscheinlich mit ihm verschwunden wären.

Ich kann es kaum erwarten, meinen eigenen zukünftigen Kindern all das zu erzählen. Ich hoffe sehr, dass auch sie eines Tages ihre eigene „Straße der Hoffnung“ entlang wandern werden und für neue Familienerinnerungen sorgen.

Text und Fotos: Laurent Dieste

Schon in jungen Jahren begann Laurent mit dem Laufen und entwickelte schnell eine Leidenschaft für sämtliche Outdoor-Sportarten. Ursprünglich aus Frankreich kommend, lebte er eine Weile in den Vereinigten Staaten, wo er als Sportjournalist arbeitete. Mittlerweile hat er sich in den Niederlanden niedergelassen und arbeitet von dort remote als Social-Media-Manager bei komoot. Er ist eigentlich immer entweder beim Laufen, beim Bikepacking oder beim Verfeinern seiner Designkünste anzutreffen.

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